Mittwoch, 13. Juli 2011

Sag: Schlaf gut!

Die Feinheiten sind schwer zu begreifen.
Mutter, die immer ein Freigeist war, hat nun unzählige Rituale, deren Wert nur ermessen kann, wer selbst hinreichende Kämpfe gegen die Angst gekämpft hat. Zuweilen werden die neuen Gewohnheiten zum Rufen der Sirenen auf Kirkes Insel. Eine der hartnäckigsten ist die Sache mit dem Abendgruß.
Irgendwann weint sie, als ich ihr nach dem gemeinsamen Fernsehen (steht hoch oben auf der Ritualliste, noch vor ihrer Lieblingsspeise von McDonalds, die sie ideenreich RibBurger nennt) "Schlaf schön!" hinterher rufe.
"Sag schlaf gut! Sag schlaf gut!" fordert sie bekümmert. Erst da verstehe ich, dass Worte am Ende des Lebens noch wichtiger sind als zu Beginn. "Schlaf gut!" wünschen wir uns nun stakkato, nachdem das Lampenritual vollbracht ist: Es-werde-Licht, selbst an gleißenden Sommerabenden, um Punkt 20 Uhr 30. Es kommt kurz vor dem Ritual Teilst-du-mir-Hundefutter-zu, Bestellen-wir-denn-heute-endlich-Pizza oder Bringt-der-Junge-gleich-noch-die-Ware-runter. Fehlt eins, fehlen alle. Mangeltage, die ein schwarzes, tödliches Seelenloch provozieren. Heute ist Mutter traurig. Wir haben gestern das Alle-essen-zusammen-und-sind-eine-Familie-Ritual ankündigungslos übergangen. Dabei fühlten wir uns frei wie die Brüder Wright. Sie verliert beim Fernsehen kein Wort darüber. Bevor sie aber das Ich-schaff-die-Treppe-heute-wirklich-nicht-Ritual erledigt, schaut sie verloren den Raum zwischen sich und da draußen an. "Gestern hat keiner Schlaf gut! gesagt," stellt sie sachlich fest. Ihr Gesicht zieht sich zu einem winzigen Punkt zusammen. Machen wir uns nichts vor. Rituale sind die Landkarte. Garantiescheine, um auch am nächsten Morgen heil wieder aufzuwachen.

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