Sonntag, 4. September 2011

Die im Dunkeln sieht man nicht

Wir hatten Urlaub. Urlaub ist, wenn man an Brecht denkt.
Wenigstens jetzt. Wenigstens so. Mit Mutter. Sie schlief im Wohn-Küchen-Zimmer des Ferienhauses, auf der riesigen Bettcouch. Wir im Schlafzimmer im Doppelbett. Es bedeutete, dass sich vier Wochen lang ihre Präsenz in jede geheime Ecke stahl. Dass sie gestern, heute, morgen, nicht nach draußen wollte. Aus Wettergründen. Wegen Hitze oder Kälte. Dass die Jalousien (überall) in jedem unbeobachteten Moment heruntergezogen wurden. Dass ein ganzes Haus den Tag über im Dämmer lag. Mutter erträgt die Sonne nicht. Ich nehme an, dass Helligkeit sie an das erinnert, was sie nicht mehr fühlen will. Freude. Gleichzeitig begann schleichend die neue Marotte:  "Wird es schon dunkel?" fragt sie voller Angst.
Morgens, mittags, abends.

Erst antworteten wir, wie man antwortet. Ja. Oder nein. Danach zogen wir die Jalousien hoch und erklärten, dass Dunkelheit kein Grund zur Furcht ist. Alles ganz normal. Sie variierte die Frage: Gibt es ein Gewitter oder wird es etwa schon dunkel? Haben sie Regen angesagt oder kann es sein, dass es schon dunkel wird? Es wird irgendwie schon dunkel, aber das ist wohl ganz normal? Soll ich nicht besser mal das Licht anmachen, bevor es dunkel wird?

Seit wir wieder zuhause sind, ist sie besessen von Lampen. Abends, vor dem Fernsehen oben, werden rituell, heimlich und schnell alle verfügbaren Leuchten angeknipst. Nur, weil es ja schon dunkel werden könnte. Tagsüber brennt überall in ihrer geliebten, düsteren Wohnung unten sowieso jedes Licht. Wieso wird es so früh schon dunkel? Weil der Herbst kommt, Mama. Weil das Jahr zuende geht, das kennst du doch, du hast das 76mal erlebt. Kein Anlaß, sich aufzuregen.

"Ich mach mir solche Sorgen", sagte sie gestern, auf der Kante der Couch, und knetete ihre Finger. Worüber? "Dass ich mir solche Sorgen mache, weil es dunkel wird." Wie gesagt, Urlaub ist, wenn man an Brecht denkt. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.