Mittwoch, 6. Juli 2011

Die Alte mit dem Fernrohr

Ihr Sessel ist Hochsitz, Ausguck - von da hat sie alles im Blick. Besonders gegenüber - die Alte mit dem Fernrohr. Elle se trouve sous surveillance. Die Alte mit dem Fernrohr beobachtet uns, meine Mutter und mich. Sie sei etwa genauso alt wie sie und wolle wissen, was bei uns passiert.

Gut, dass sie vorher misstrauisch um sich geschaut hat und die Katzen für vermisst erklärt. Sind wohl abgehauen, heute Nacht, sagt sie leise. Du brauchst kein Katzenfutter zu kaufen.

Als sie nach den Katzen sucht, verengt sich das rechte Auge. Kimme, Korn, Schuss. Sie wechselt das Objektiv. Die Alte mit dem Fernrohr ist ihr Spiegelbild, ist ein Versuch zu verstehen, was passiert. Der einzige Umweg, um die Wahrheit allmählich ans Licht gelangen zu lassen.

Zwischendurch liest sie wieder Thomas Mann. Zuerst die Buddenbrooks. Der Empfangsbär hat es ihr angetan. So einen hätte sie gern, riesig, furchterweckend, dekorativ, eine Figur zum Spielen, eine Figur, um das eigene Gedächtnis auf die Probe zu stellen. Sie traut sich nicht über den Weg. Da kommt der Bär gerade recht.

Jetzt brütet sie über dem Zauberberg. Ganz bei sich und im Hier und Jetzt ist sie bei den Nachrichten. Empört sich über die Pastorentochter. Wie kann die nur Panzer an die Saudis liefern!

Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes erhielt sie auf dem Petersberg bei Bonn von Johannes Rau den Verdienstorden Nordrhein-Westfalens. Ordensbrüder an diesem Abend waren Ben Wisch und Ralph Giordano. Sie erhielt den Orden, weil sie während des Maidanek-Prozesses Zeuginnen der Anklage betreut hatte. Am Vorabend ihrer Aussage saßen sie bei meinen Eltern im Wohnzimmer, manche begleitet von ihren Kindern, und versuchten, manchmal zum ersten Mal, im Beisein ihrer Kinder davon zu erzählen.

Diese Erfahrung prägt, schuf und festigte Freundschaften, ist eine Impfung gegen das Irresein (nicht gegen das Werden). Im Protest, in der Empörung, ist sie bei sich, schmerzfrei, glasklar.

Da kann die Alte mit dem Fernrohr sehen, was sie will.

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