Samstag, 10. Mai 2014

Die Wohnung der Eltern kündigen, nach 44 Jahren

Ich lese immer wieder mit großem Vergnügen an der berührenden Leichtigkeit dieses Erzählers das Blog des Herrn Glumm.

In seinem neuesten Blogeintrag erzählt er davon, wie sein Vater die Kündigung der alten Wohnung unterschrieb. Mich erinnert das an die Auflösung der Wohnung meiner Mutter. Vor ein paar Tagen erst sah ich Fotos von damals, im September 2011.

Die Sperrmüllabfuhr kam nicht zu dem verabredeten Termin, so dass der riesige Müllberg über 24 Stunden die Nachbarn quälte. Die letzten Fotos, die ich damals natürlich nicht weggeworfen hatte, erhielt ich erst vor wenigen Wochen als Paket, so lange waren sie in Köln untergestellt.

Sonntag, 5. Mai 2013

Abgefahren

Ich fahre mit meiner Mutter zum Bahnhof. Wir wollen verreisen. Mit unbekanntem Ziel. Sie scheint ungeheuer gut gelaunt. Flink wie ein Wiesel entert sie den Zug - und hast Du nicht gesehen, fährt der ab.

Noch bin ich ratlos, was ich tun soll, als ich kurz aufwache und mich frage, ob der Traum das Ende des Trauerns um sie bedeutet. Sie ist am 6. Oktober 2012 gestorben. Auf dem Bahnhof in Düsseldorf, auf dem ich zwei Tage zuvor auf dem Weg nach Köln einen Zwischenstopp hatte, erhielt ich einen Notruf ihres Hausarztes. Er habe sie gerade ins Krankenhaus eingewiesen. Ich treffe dort eine Viertelstunde vor ihr ein. Die Diagnose ist klar. Ein Gefäßverschluss im Bein. Der Arzt sagt mir, man müsse das Bein sofort amputieren. Ich sage ihm, dass das nicht in Frage kommt. Er lässt uns kurz allein.

Ich flüstere ihr ins Ohr: "Dir wird nichts mehr abgeschnitten." - "Bravo!" flüstert sie. Das war ihr letztes Wort.

Die folgenden 24 Stunden verbringe ich im Krankenhaus an ihrer Seite. Am Abend zieht die   Rollnacht draußen am Rheinufer vorbei. Das Heulen, Jaulen und Wummern der Lautsprecher verbindet sich mit Schreien aus den Nachbarzimmern zu einem memento mori.

36 Stunden später war sie tot.

Sonntag, 4. September 2011

Die im Dunkeln sieht man nicht

Wir hatten Urlaub. Urlaub ist, wenn man an Brecht denkt.
Wenigstens jetzt. Wenigstens so. Mit Mutter. Sie schlief im Wohn-Küchen-Zimmer des Ferienhauses, auf der riesigen Bettcouch. Wir im Schlafzimmer im Doppelbett. Es bedeutete, dass sich vier Wochen lang ihre Präsenz in jede geheime Ecke stahl. Dass sie gestern, heute, morgen, nicht nach draußen wollte. Aus Wettergründen. Wegen Hitze oder Kälte. Dass die Jalousien (überall) in jedem unbeobachteten Moment heruntergezogen wurden. Dass ein ganzes Haus den Tag über im Dämmer lag. Mutter erträgt die Sonne nicht. Ich nehme an, dass Helligkeit sie an das erinnert, was sie nicht mehr fühlen will. Freude. Gleichzeitig begann schleichend die neue Marotte:  "Wird es schon dunkel?" fragt sie voller Angst.
Morgens, mittags, abends.

Erst antworteten wir, wie man antwortet. Ja. Oder nein. Danach zogen wir die Jalousien hoch und erklärten, dass Dunkelheit kein Grund zur Furcht ist. Alles ganz normal. Sie variierte die Frage: Gibt es ein Gewitter oder wird es etwa schon dunkel? Haben sie Regen angesagt oder kann es sein, dass es schon dunkel wird? Es wird irgendwie schon dunkel, aber das ist wohl ganz normal? Soll ich nicht besser mal das Licht anmachen, bevor es dunkel wird?

Seit wir wieder zuhause sind, ist sie besessen von Lampen. Abends, vor dem Fernsehen oben, werden rituell, heimlich und schnell alle verfügbaren Leuchten angeknipst. Nur, weil es ja schon dunkel werden könnte. Tagsüber brennt überall in ihrer geliebten, düsteren Wohnung unten sowieso jedes Licht. Wieso wird es so früh schon dunkel? Weil der Herbst kommt, Mama. Weil das Jahr zuende geht, das kennst du doch, du hast das 76mal erlebt. Kein Anlaß, sich aufzuregen.

"Ich mach mir solche Sorgen", sagte sie gestern, auf der Kante der Couch, und knetete ihre Finger. Worüber? "Dass ich mir solche Sorgen mache, weil es dunkel wird." Wie gesagt, Urlaub ist, wenn man an Brecht denkt. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.      

Freitag, 19. August 2011

Ich Dussel

Vorgestern habe ich meine Mutter in die Neurologische Uniklinik gebracht. Ihre Schmerzen, ihr Parkinson, ihre Halluzinationen erfordern einen neuen Cocktail. Nach sieben Monaten an ihrer Seite fühle ich mich ausgebrannt, erschöpft, kapituliere vor einem état de siège, den ich mir in der Dramatik im Januar nicht vorstellen konnte.

Mit der seit wenigen Monaten sich beschleunigenden Reise in die Demenz gewinnen primäre Schutzinstinkte meiner Mutter Oberhand. Im Gespräch vorsätzlich schwerhörig, entwickelt sie aus der Ferne des Gestühls oder Betts einen akustischen Alarminstinkt, der jedes Geräusch, auch das allerleiseste augenblicklich wahrnimmt.

Hallo??? Wer dann nicht Laut gibt, ist verloren. Die Uhrzeit? Egal. Nachts um vier in die Küche gehen: Hallo? Mittags während ihres Nickerchens die Toilette aufsuchen - hallo? Die Wäsche wieder raufbringen: Ich heiße jetzt Hallo.

Kläre ich meine Mutter darüber auf, dass hinter den von ihr als Bedrohung wahrgenommenen Geräuschen ihr eigener Sohn steckt, der sich seit über sieben Monaten um sie kümmert, sagt sie: Ich Dussel.

Eben sah ich dieses Video, eine Probeaufnahme Josef von Sternbergs mit Marlene Dietrich für den Film "Der blaue Engel".


Bout d'essai Marlene Dietrich screentest von astre

Als der Film gedreht wurde, war meine Mutter acht Jahre alt. "Du Dussel" war eines der freundlichen Koseschimpfwörter ihrer Familie. Das Repertoire, ins Sediment gesunken, kehrt an die Oberfläche zurück, während andere Ichfunktionen abbauen.

Ich halte das nicht mehr aus. Als wir am Mittwochmorgen aufbrechen, fragt sie mich angstvoll, ob sie zurückkehren werde. Herzzerbrechend. Aber ich kann es nicht mehr. Nach der Klinik habe ich mit viel Glück eine zweiwöchige Kurzzeitpflege in der Nachbarschaft gefunden. In der Zeit suche ich nach einem guten Pflegeheim und werde mich von dem Stress der letzten Monate erholen. Hoffentlich.

Am Montag steht das abschließende Gespräch mit dem Neurologen auf dem Plan. Ich hoffe auf seine Hilfe. Sonst bin ich der Dussel.

Freitag, 29. Juli 2011

Ich wird ein Anderer

Rimbaud. Digital ID: 2006249. New York Public Library

Vorgestern hat sie zum ersten Mal von sich aus davon gesprochen. Dass sie im Begriff sei, ihren Verstand zu verlieren. Welche Angst ihr das bereite. Wie verzweifelt sie sei. Wie ungewiss über die Zukunft. Mit dem bescheidenen Trost, darüber nachdenken, sich selbst beobachten zu können. Second order within disorder.

Der Zeitpunkt war unglücklich. Ein Freund hatte mir meine Post aus Berlin mitgebracht. Wir trafen uns für zwei Stunden, für ein schnelles Abendessen in D. Als ich zurück komme, sitzt sie reisefertig im Wohnzimmer. Wo wir denn blieben? Sie müsse nun ihre Wohnung verlassen. Oder ob es nicht möglich sei, noch etwas zu bleiben?

Mit Mühe beruhige ich sie, bewege sie dazu, ins Bett zu gehen. Lass mich nicht allein! Mit den Worten verabschiedet sie sich von mir.

Wie ein lautloses Thai-Longtailboot von Strand zu Strand, zu den vom Meer der Demenz angenagten Inseln ihrer Erinnerungen. Sie selbst ihr eigener Postgote. So nannte mein Vater den Briefträger. Ehrendes Andenken.

Sie hat eine erstaunlich akkurate Selbstdiagnose gestellt. In der milden Form ihrer späten Demenz (Lewy-Körperchen) gehen nicht alle kognitiven Funktionen verloren.

Ihr Ich wird nun ein Anderer.