Dienstag, 28. Juni 2011

Keep passing the open windows


Alles war lange potenziell tödlich. Einen Fön besitzt sie nicht mehr. In Mutters Kopf geht er fatale Verbindungen mit Wasser ein. Irgendwann verbannte sie auch den Toaster. Wochen später lagen ihre Küchenmesser plötzlich unten im Hof. Schmale, zarte Morsezeichen, die nur an Sonnentagen blinken. Save Our Souls. Sie hat sie einfach hinausgeworfen. Niemand sammelte sie ein. Sie erinnern alle an alles. Auch die Nagelschere ist (wer weiß wohin) verschwunden. Es blieben die Fenster.


Kurz nach unserem Herzug befahl sie, überall Kindersicherungen anzubringen. Wenig später erwachte ich, weit nach Mitternacht, von ihrem Murmeln aus der Küche. Sie erklomm gerade mein Fensterbrett. Danach forderte sie, ihr auch den Schlüssel zu unserer Wohnung wegzunehmen, der bewies: Du gehörst zu uns. Entweder das. Oder verbarrikadiert auch diese Fenster. Sie bettelte darum. Wir nahmen den Schlüssel. War das der Tag, an dem ich geweint habe? Mein abgebrochenes Leben ging mit anderen Sujets als mir wieder auf. Über einem Horizont, bestehend aus vier Stockwerken Angst. Der Sucht zu fliegen. Der größten Hoffnung und tiefsten Panik meiner Mutter.

In diesen Momenten, vor einem Jahr, sah sie immer aus wie zwei Personen. Eine hackte der anderen die Hand ab, welche sie verletzte. Jetzt, da diese Phase vorbei ist, da sich Gutmenschentum wieder lohnt, da Dinge sich millimeterweise, im Kriechtempo, verbessern, lacht sie manchmal. Sie ist so einfallsreich. Entschieden im Wollen und Versagen. Ihre Wahrheit, erschreckend unzerbrechlich. Hatte sie nicht immer solche Angst vor sich? Sie wollte doch sonst nur fortlaufen. Nun schützt sich Mutter vor ihrer Fantasie. Erstaunt betrachtet sie, wie es - wie sie - war. Größer kann kein Trost sein. Keep passing the open windows...*

* John Irving, The Hotel New Hampshire, 1981

Montag, 27. Juni 2011

Katzen als Joker

Chat. Digital ID: 102262. New York Public Library

Als ich im Januar zu meiner Mutter zog, in die Fünfquadratmeterzelle neben ihrem Schlafzimmer, konnte es vorkommen, dass sie mich mit verschwörerisch leiser Stimme zu sich rief. Sieh mal, sagte sie dann leise, da ist sie wieder.

Sie erhält nächtliche Katzenbesuche. Manchmal auch tagsüber, als Trostpreise. Mal huschen sie zu ihr ins Bett. Oder sie begnügen sich mit einem Platz auf dem Rollstuhl. Sie schnurren vor sich hin. Oder sind gemessen auf Abstand bedacht.

Aus dem trivialen Blickwinkel des Sohns sind die Katzen eine gebrauchte Windel, eine zu bügelnde Hose, ein pollenverschmierter Kastanienast.

Die Katzen lenken ihren Blick in eine andere Welt. Manchmal entstehen da Filme, oft obszönen Inhalts (und ob das szön ist ...), im Leben der Anderen, auf der anderen Straßenseite, bei der japanischen Großfamilie.

Meine Mutter kennt Shozo Numa nicht, den Autor des Romans Yapoo, ein mild in die Zukunft projizierter Science Fiction, in dem eine Herrenrasse über ihr Glück gebietet. Zur Vervollkommung ihres Glücks dient eine Sklavenrasse, begabt, ihre Körper jedwedem Wunsch ihrer Herren anzupassen. Ich stieß auf Yapoo, als ich an einem kühlen Herbstabend meinen japanischen Freund bat, meine Decke zu sein.

Er schrie entsetzt-begeistert: Yapoo - iiiäää! Und erzählte mir die story des Romans.

Die Katzen sind das Yapoo meiner Mutter, Joker und Platzhalter einer ausfransenden Realität, die sich bereit hält, Zeugen ihres Daseins, lockende Erinnerungen an Pinki, den Kater des Vaters ("erst der Kater, dann der Vater" - bedichtete Vater den Tod seines Katers, dem bald der eigene folgte) und ihren Kater Mikesch.

Einspruch zwecklos. Sie sind da.

Sonntag, 26. Juni 2011

...draußen vor der Tür

Bei Mutter klingeln nur Blindgänger. Sie hat eine Depression. Und keine Bekannten mehr. Gestern schellte es, und als ich oben öffnete, hörte ich sie an der Tür ihr Mantra murmeln. DasistDodiDasistDodiDasistDodi. Es war aber gar nicht Dodi, sondern ein Paket für mich. Dodi ist der Junge meiner Schwester. Meine Schwester redet nicht mehr mit Mutter. Weil sie Depressionen für Egotrips hält. Deshalb ging sie auch fort. Einer der endgültigen Brüche, wie sie nur in Selbsthilfebüchern vorkommen. Wir zogen aus Berlin her, um uns zu kümmern. Dodi und seine Schwester kommen seit 2007 gar nicht mehr. Das kennt Mutter von früher: Propaganda. Manchmal läuft sie in ihrer Wohnung herum und flüstert: "Mein Biberchen!" So hieß Dodi, als sie sich um ihn kümmerte. Mutter will nicht, dass ich weiß, wie oft sie die Nummer meiner Schwester wählt. Und dass nie jemand abnimmt. Scham kann so still sein.
Draußen, vor der Tür.

Hunger!

"Mir aber nicht so viel!" sagt sie. Jeden Tag. Und: "Ich kann wirklich nicht mehr. Darf ich das drauflassen?" Ich bin zur Göttin ihrer Mahlzeiten geworden. Mir obliegt es, das Essen zu kontrollieren. Das Leben. "Das schaff ich nicht mehr!" sagt sie und starrt entschuldigend den Teller an. Immer isst sie so hektisch, als lange gleich eine große Hand aus dem Himmel nach ihr. "Das letzte Stück lass ich aber liegen, ja?" Ich nicke. Irgendwann schreie ich auch: "Ja, ja, ja!" Mutter zuckt zusammen. Es interessiert niemanden, wieviel du isst, Oma!" sagt der Junge böse. Seine Ururgroßmutter, ihre Großmutter, ging um ein Stück Butter beim Bauern betteln. Deren Tochter, Mutters Mutter, verschlang diese Butter - versteckt auf der Unterseite des Frühstücksbrots - damit die Kinder nicht sahen, welche Gier sie umtrieb. 1935 geboren werden. Essen ist Krieg. Dem Jungen bedeutet es nichts. Heute. Hier. "Gib mir die kleinste Portion!" sagt sie. "Du weißt ja, ich kann nicht so viel!" Mutter isst heimlich, wie ihre gabelzinkendünne, eigene Mutter, bevor und nachdem die Russen kamen. Eine Packung Schmelzkäse, mit dem Löffel. Tütenweise Gummibärchen. "Bring die nicht mehr mit, sonst sind die sofort weg!" Ich zucke. "Iß doch, iß endlich, Mama!" sage ich. "Darf ich den Rest wegwerfen?" fragt sie. Der Deckel des Mülleimers scheppert. Essen segelt ins Nirgendwo. Ihre Stimme scheppert. Ich bin ihre Mutter geworden. Sie bettelt um Strafe. "Hör auf zu fragen!" schreie ich. "Ich hab so Angst," sagt sie, "dass du schimpfst, wenn ich nicht aufesse!" Sie lächelt. Hunger wird belohnt. Verschwendung bestraft. Ich bin ihr Kerkermeister. Sie schmiedet Ketten.
Jeden und jeden Tag. 

Leichtigkeit des Seins

Die Idee ist so einfach. Beiseitelegen, was auf Dich zurast.

Donnerstag, 23. Juni 2011

Verloren gehen













Das unterstrichene Datum und die Notierung fand ich heute Nachmittag auf der Lokalseite der Tageszeitung. Ein Auto-Alarm. Meine Mutter befürchtet, ihr Gedächtnis zu verlieren.

Das Datum, die Zeitung, die stündlichen Nachrichten, die Essenszeiten - die Routinen im Alltag der fast 89jährigen Frau zerfransen, geben keinen Halt mehr. Wo bin ich? Was für einen Tag haben wir heute? Wann kommt die Pflegerin?

In ihrer Mimik mischen sich Grimm, Trauer, Verzagtheit. Weil das so ist, will sie nicht drüber reden.

Du gehst nicht verloren!