Freitag, 29. Juli 2011
Ich wird ein Anderer
Vorgestern hat sie zum ersten Mal von sich aus davon gesprochen. Dass sie im Begriff sei, ihren Verstand zu verlieren. Welche Angst ihr das bereite. Wie verzweifelt sie sei. Wie ungewiss über die Zukunft. Mit dem bescheidenen Trost, darüber nachdenken, sich selbst beobachten zu können. Second order within disorder.
Der Zeitpunkt war unglücklich. Ein Freund hatte mir meine Post aus Berlin mitgebracht. Wir trafen uns für zwei Stunden, für ein schnelles Abendessen in D. Als ich zurück komme, sitzt sie reisefertig im Wohnzimmer. Wo wir denn blieben? Sie müsse nun ihre Wohnung verlassen. Oder ob es nicht möglich sei, noch etwas zu bleiben?
Mit Mühe beruhige ich sie, bewege sie dazu, ins Bett zu gehen. Lass mich nicht allein! Mit den Worten verabschiedet sie sich von mir.
Wie ein lautloses Thai-Longtailboot von Strand zu Strand, zu den vom Meer der Demenz angenagten Inseln ihrer Erinnerungen. Sie selbst ihr eigener Postgote. So nannte mein Vater den Briefträger. Ehrendes Andenken.
Sie hat eine erstaunlich akkurate Selbstdiagnose gestellt. In der milden Form ihrer späten Demenz (Lewy-Körperchen) gehen nicht alle kognitiven Funktionen verloren.
Ihr Ich wird nun ein Anderer.
Samstag, 23. Juli 2011
Auf der Straße nach Dijon
Meine Mutter beginnt eine Liebesaffäre. Trällert vor sich hin. Wenn ich sie dabei erwische, wird sie rot und kichert. Sie hat viele Jahre im Kirchenchor gesungen. Dadidadamm. Eine schöne Altstimme, von der nichts geblieben ist als eine viel zu hohe Kopfstimme, mit der sie die Melodien anstimmt.
Seit ein paar Tagen singt sie "Auf der Straße nach Dijon". Klein Madlene ging spazieren / wide ralla wide ro / und sie pflückte roten Mohn (pflück - pflück) / auf der Straße nach Dijon.
Ein spätes Deflorationsliedchen. Sie will gefallen. Meiner Liebe entkommst Du nicht. Das ist ihre Botschaft. Wenn ich spätabends Licht in ihrem Zimmer sehe und die Tür öffne, strahlt sie vor Wonne und jauchzt: "Komm in meine Arme!"
Dann kann ich nur noch fliehen.
Seit ein paar Tagen singt sie "Auf der Straße nach Dijon". Klein Madlene ging spazieren / wide ralla wide ro / und sie pflückte roten Mohn (pflück - pflück) / auf der Straße nach Dijon.
Ein spätes Deflorationsliedchen. Sie will gefallen. Meiner Liebe entkommst Du nicht. Das ist ihre Botschaft. Wenn ich spätabends Licht in ihrem Zimmer sehe und die Tür öffne, strahlt sie vor Wonne und jauchzt: "Komm in meine Arme!"
Dann kann ich nur noch fliehen.
Samstag, 16. Juli 2011
Uhrwerkzement
"Mundschenk!" 07:15-07:45h
"Den restlichen Tee kannst Du bitte in die Küche stellen!" 07:45h
"Kannst Du mir bitte die Tropfen geben?" 09:30h
"Was wirst Du denn heute kochen?" 10:30h
"Ich kann nicht mehr." 00:00-23:59h
"Machst Du bitte das Fenster zu?" 13:00 und 18:00h
"Machst Du uns denn gleich bitte einen Kaffee?" 15:00h
"Ich kann nicht mehr. Ich geh ins Bett." 17:30h
"Machst Du mir denn bitte noch ein Bütterken?" 18:00h
"Gute Nacht! Schlaf Du auch gut und habe schöne Träume." 19:00h
Dass dann "mein" Tag beginnt, dass er erst fünf Stunden später endet, diese Idee erreicht sie nicht. Im Uhrwerk ihrer Routinen gibt es die Welt da draußen nicht. Sie nimmt sie schon wahr. Durch die Zeitung. Die stündlichen TV-Nachrichten. Besonders schrecklich das ZDF-Morgenmagazin, am schrecklichsten, wenn Frau Hayali und Herr Jobatey moderieren. Genauso so schrecklich, wenn ein ehemaliger FAZ-Redakteur mit der Nachrichtenlage kuschelt. Das ist mein Zeitfenster des frühen Morgens, an dem ich Facebook-DJ spiele, unter den dicht abschließenden Kopfhörern die Musiklieferungen von Thomas Said, Henri, Pseu und Freunden aus aller Welt probehöre, dann dringt nur der Ruf nach dem Mundschenk durch, der ihr die nächste Tasse Tee einschenken möge, wofür sie selbst zu schwach ist. Gleich nach meiner Ankunft habe ich ihr eine neue große Teekanne gekauft. An die bin ich morgens gekettet. "Mundschenk!"
Im Uhrwerk wohnt ein freundlich bekleideter Befehl, der keinen Widerstand duldet. Meine Frage, ob es Zweifel daran geben könne, dass gleich der Kaffee auf dem Tisch stehe, das Bütterken ans Bett gebracht werde, erreicht sie nicht. Der Zweifel, das Fatamorganagefühl, dass diese Person an ihrer Seite ruckzuck wieder weg und sie wieder allein sein könnte, dieser Zweifel ist groß.
Neunzehn Jahre verwitwete Einzelhaft haben ihr Uhrwerk zementiert. Die darin gewachsene Unruhe ist unstillbar.
Bild von simpologist mit creativ commons-Lizenz
"Den restlichen Tee kannst Du bitte in die Küche stellen!" 07:45h
"Kannst Du mir bitte die Tropfen geben?" 09:30h
"Was wirst Du denn heute kochen?" 10:30h
"Ich kann nicht mehr." 00:00-23:59h
"Machst Du bitte das Fenster zu?" 13:00 und 18:00h
"Machst Du uns denn gleich bitte einen Kaffee?" 15:00h
"Ich kann nicht mehr. Ich geh ins Bett." 17:30h
"Machst Du mir denn bitte noch ein Bütterken?" 18:00h
"Gute Nacht! Schlaf Du auch gut und habe schöne Träume." 19:00h
Dass dann "mein" Tag beginnt, dass er erst fünf Stunden später endet, diese Idee erreicht sie nicht. Im Uhrwerk ihrer Routinen gibt es die Welt da draußen nicht. Sie nimmt sie schon wahr. Durch die Zeitung. Die stündlichen TV-Nachrichten. Besonders schrecklich das ZDF-Morgenmagazin, am schrecklichsten, wenn Frau Hayali und Herr Jobatey moderieren. Genauso so schrecklich, wenn ein ehemaliger FAZ-Redakteur mit der Nachrichtenlage kuschelt. Das ist mein Zeitfenster des frühen Morgens, an dem ich Facebook-DJ spiele, unter den dicht abschließenden Kopfhörern die Musiklieferungen von Thomas Said, Henri, Pseu und Freunden aus aller Welt probehöre, dann dringt nur der Ruf nach dem Mundschenk durch, der ihr die nächste Tasse Tee einschenken möge, wofür sie selbst zu schwach ist. Gleich nach meiner Ankunft habe ich ihr eine neue große Teekanne gekauft. An die bin ich morgens gekettet. "Mundschenk!"
Im Uhrwerk wohnt ein freundlich bekleideter Befehl, der keinen Widerstand duldet. Meine Frage, ob es Zweifel daran geben könne, dass gleich der Kaffee auf dem Tisch stehe, das Bütterken ans Bett gebracht werde, erreicht sie nicht. Der Zweifel, das Fatamorganagefühl, dass diese Person an ihrer Seite ruckzuck wieder weg und sie wieder allein sein könnte, dieser Zweifel ist groß.
Neunzehn Jahre verwitwete Einzelhaft haben ihr Uhrwerk zementiert. Die darin gewachsene Unruhe ist unstillbar.
Bild von simpologist mit creativ commons-Lizenz
Mittwoch, 13. Juli 2011
Sag: Schlaf gut!
Die Feinheiten sind schwer zu begreifen.
Mutter, die immer ein Freigeist war, hat nun unzählige Rituale, deren Wert nur ermessen kann, wer selbst hinreichende Kämpfe gegen die Angst gekämpft hat. Zuweilen werden die neuen Gewohnheiten zum Rufen der Sirenen auf Kirkes Insel. Eine der hartnäckigsten ist die Sache mit dem Abendgruß.
Irgendwann weint sie, als ich ihr nach dem gemeinsamen Fernsehen (steht hoch oben auf der Ritualliste, noch vor ihrer Lieblingsspeise von McDonalds, die sie ideenreich RibBurger nennt) "Schlaf schön!" hinterher rufe.
"Sag schlaf gut! Sag schlaf gut!" fordert sie bekümmert. Erst da verstehe ich, dass Worte am Ende des Lebens noch wichtiger sind als zu Beginn. "Schlaf gut!" wünschen wir uns nun stakkato, nachdem das Lampenritual vollbracht ist: Es-werde-Licht, selbst an gleißenden Sommerabenden, um Punkt 20 Uhr 30. Es kommt kurz vor dem Ritual Teilst-du-mir-Hundefutter-zu, Bestellen-wir-denn-heute-endlich-Pizza oder Bringt-der-Junge-gleich-noch-die-Ware-runter. Fehlt eins, fehlen alle. Mangeltage, die ein schwarzes, tödliches Seelenloch provozieren. Heute ist Mutter traurig. Wir haben gestern das Alle-essen-zusammen-und-sind-eine-Familie-Ritual ankündigungslos übergangen. Dabei fühlten wir uns frei wie die Brüder Wright. Sie verliert beim Fernsehen kein Wort darüber. Bevor sie aber das Ich-schaff-die-Treppe-heute-wirklich-nicht-Ritual erledigt, schaut sie verloren den Raum zwischen sich und da draußen an. "Gestern hat keiner Schlaf gut! gesagt," stellt sie sachlich fest. Ihr Gesicht zieht sich zu einem winzigen Punkt zusammen. Machen wir uns nichts vor. Rituale sind die Landkarte. Garantiescheine, um auch am nächsten Morgen heil wieder aufzuwachen.
Mutter, die immer ein Freigeist war, hat nun unzählige Rituale, deren Wert nur ermessen kann, wer selbst hinreichende Kämpfe gegen die Angst gekämpft hat. Zuweilen werden die neuen Gewohnheiten zum Rufen der Sirenen auf Kirkes Insel. Eine der hartnäckigsten ist die Sache mit dem Abendgruß.
Irgendwann weint sie, als ich ihr nach dem gemeinsamen Fernsehen (steht hoch oben auf der Ritualliste, noch vor ihrer Lieblingsspeise von McDonalds, die sie ideenreich RibBurger nennt) "Schlaf schön!" hinterher rufe.
"Sag schlaf gut! Sag schlaf gut!" fordert sie bekümmert. Erst da verstehe ich, dass Worte am Ende des Lebens noch wichtiger sind als zu Beginn. "Schlaf gut!" wünschen wir uns nun stakkato, nachdem das Lampenritual vollbracht ist: Es-werde-Licht, selbst an gleißenden Sommerabenden, um Punkt 20 Uhr 30. Es kommt kurz vor dem Ritual Teilst-du-mir-Hundefutter-zu, Bestellen-wir-denn-heute-endlich-Pizza oder Bringt-der-Junge-gleich-noch-die-Ware-runter. Fehlt eins, fehlen alle. Mangeltage, die ein schwarzes, tödliches Seelenloch provozieren. Heute ist Mutter traurig. Wir haben gestern das Alle-essen-zusammen-und-sind-eine-Familie-Ritual ankündigungslos übergangen. Dabei fühlten wir uns frei wie die Brüder Wright. Sie verliert beim Fernsehen kein Wort darüber. Bevor sie aber das Ich-schaff-die-Treppe-heute-wirklich-nicht-Ritual erledigt, schaut sie verloren den Raum zwischen sich und da draußen an. "Gestern hat keiner Schlaf gut! gesagt," stellt sie sachlich fest. Ihr Gesicht zieht sich zu einem winzigen Punkt zusammen. Machen wir uns nichts vor. Rituale sind die Landkarte. Garantiescheine, um auch am nächsten Morgen heil wieder aufzuwachen.
Fluchtgedanken
Gestern hatte ich ein eigenes Problem. Das ist heutzutage für Menschen wie mich beileibe keine Selbstverständlichkeit mehr. Meist habe ich andere Schwierigkeiten, da ich hauptberuflich die Probleme meiner Mutter verwalte. Diesmal jedoch ging es um meine Beziehung, die ihr nicht wirklich passt. Obwohl sie den Mann mag. Aber niemand ist nun mal leider mein Vater. Der seinerseits ruht seit Jahren unter Stiefmütterchen, friedhofsdunklen Koniferen und einem winzigen japanischen Ahorn, den ich gepflanzt habe. Und wird wiederum von einem namenlosen Gärtner verwaltet. Vater hat deshalb auch keine Probleme mehr. Zumindest keine sichtbaren. Mutter beobachtet seinen Konkurrenten, den Mann, den ich ihr mit aufdrängte, als ich mich für sie entschied, mit Argusaugen. Dabei tarnt sie sich geschickt. Lediglich eine zitternde Unterlippe oder ein zu schnell geschluckter Bissen der gemeinsamen Abendmahlzeit verrät, was sie denkt. Sie hat die spitze Zunge der frühen Jahre gezähmt - angesichts ständiger, unausgesprochener Fragen der Abhängigkeit von Töchtern kommt Kritik gar nicht gut. Zum Streiten wandern mein Freund und ich, aus Rücksicht auf ihre Gefühle und Trommelfelle, in diverse Cafés des Städtchens aus, die uns weder gefallen, noch das Flair vermitteln, das wir zur Beruhigung des losgelassenen Affengeistes brauchen würden. Dort hält man uns für eine buddhistische Theatertruppe, weil wir zwischen den Dezibelrekorden mit Begriffen wie "abhängiges Entstehen" um uns werfen. Am Ende kehren wir erschöpft heim zu ihr. Das hier ist anders als Berlin. Man muss sich nicht nur den Kellnern, sondern auch den greisen Erziehungsberechtigten erklären. Du tust mir so leid, sagt Mutter dann. Hattet ihr Streit? Ist alles wieder gut? Wenn nicht, könnte eine ganze Welt auseinander fliegen.Aber sie meint gar nicht mich. Und es fehlt auch ein Halbsatz. Korrekt würde es heißen: Du tust mir so leid, denn diesen Menschen da, den du unglaublicherweise liebst und der prima Fenster putzen kann, dreh wie du willst. Er wird doch niemals wie dein Vater! Das Beben des Triumphes am Boden ihrer Stimme ist dennoch nicht zu überhören. Eigentlich bewundert sie meinen Freund. Dafür, dass er ihre geliebte Wärterin in Schach hält. Ambivalenz ist das Bergwerk ihres Alters.
Schuften im Dunkeln. Bis zum Umfallen.
Schuften im Dunkeln. Bis zum Umfallen.
Sonntag, 10. Juli 2011
Ruf. Nicht. An.
Sie und mich verbindet eine endlose Telefongeschichte.
Früher lag es an 500 Kilometern Atemraum zwischen Berlin und Ruhrgebiet. Seit ich oben wohne, sorgen die Anrufe für brüchige Distanzen. Die Illusion, dass doch mehr als ein Blatt zwischen Mutter und Tochter passt. Solche Lügen sind uns Trickbetrügerinnen angenehm. Symbiose, ein fahl leuchtendes Schimpfwort. Der Versuch, uns zu entfernen und wiederzufinden, gleicht dem Irrsinn, damals, vor dem Umzug. Meine Nächte, Crashkurs in Überleben, bis zu zehn Anrufe vorm Morgengrauen. Es kam vor, dass ich nicht mehr abnahm. Ruhe war dennoch nie. Ich weinte, wenn mich Bilder plagten - von einem Paar alter Schuhe unter einem leeren Fensterbrett. Von Mutters nikotindunklen, fern wehenden Gardinen. Wie anklagend kann ein abgeschaltetes Handy aussehen? Aber sie hat sich selbst gerettet. Mal um Mal. Seit die Ärzte ihr befehlen, die Angst unten mit sich selbst auszutragen, ruft sie ab und zu minütlich an. Wenn es hell wird oder dunkel, wenn Türen zufallen. Bist du noch da? Du, ich, ihr Kind, Eigentum, Wärterin und Gefangene in einem. Weil sie mich versteht, hat Mutter eine List ersonnen. Ich wollte dir nur mitteilen, wie lieb ich dich hab, sagt sie am Handy. Sie weiß, ich werde nicht auflegen.
Früher lag es an 500 Kilometern Atemraum zwischen Berlin und Ruhrgebiet. Seit ich oben wohne, sorgen die Anrufe für brüchige Distanzen. Die Illusion, dass doch mehr als ein Blatt zwischen Mutter und Tochter passt. Solche Lügen sind uns Trickbetrügerinnen angenehm. Symbiose, ein fahl leuchtendes Schimpfwort. Der Versuch, uns zu entfernen und wiederzufinden, gleicht dem Irrsinn, damals, vor dem Umzug. Meine Nächte, Crashkurs in Überleben, bis zu zehn Anrufe vorm Morgengrauen. Es kam vor, dass ich nicht mehr abnahm. Ruhe war dennoch nie. Ich weinte, wenn mich Bilder plagten - von einem Paar alter Schuhe unter einem leeren Fensterbrett. Von Mutters nikotindunklen, fern wehenden Gardinen. Wie anklagend kann ein abgeschaltetes Handy aussehen? Aber sie hat sich selbst gerettet. Mal um Mal. Seit die Ärzte ihr befehlen, die Angst unten mit sich selbst auszutragen, ruft sie ab und zu minütlich an. Wenn es hell wird oder dunkel, wenn Türen zufallen. Bist du noch da? Du, ich, ihr Kind, Eigentum, Wärterin und Gefangene in einem. Weil sie mich versteht, hat Mutter eine List ersonnen. Ich wollte dir nur mitteilen, wie lieb ich dich hab, sagt sie am Handy. Sie weiß, ich werde nicht auflegen.
Samstag, 9. Juli 2011
Spiegelbilder
Die dritte Nacht in dieser Woche, in der ich zwischen drei und vier Uhr davon wach werde, dass ich meine Mutter nebenan sehr energisch reden höre. Tonfall, Redefluss und Pausen deuten darauf hin, dass es einen für mich nicht hörbaren Gesprächspartner gibt.
Zwischendurch kommt ein glockenhelles Lachen ins Spiel, als verwandelte sich die Situation in ein Telefongespräch mit einer ihrer Freundinnen. Mühelos wechselt sie ins Parlando, als wäre nichts gewesen.
Ich komme in ihr Zimmer und sie wechselt wieder den Ton. Schaff diese Alte raus, befiehlt sie mir. Im Zwielicht der Nachttischlampe erkennt sie ihr Spiegelbild nicht. Nein, es ist subtiler. Sie nimmt etwas wahr, das sie beunruhigt und ihr Angst macht, weil es nicht mit ihrem Selbstbild übereinstimmt. Ich kann sie dazu bewegen, sich wieder schlafen zu legen.
Gestern ein kurzes Treffen mit J. in D. - ich schildere ihm meine Situation, versuche, sie als Training zu verstehen. Jetzt geht es nicht um höher, schneller, weiter. Jetzt geht die Reise nach innen, in die Tiefe, auf die Suche nach einer Balance, die ich im Schreiben finde.
Das Bild der Balance ist egoistisch. In der Mutter-Sohn-Dyade wächst in mir, was ihr verloren geht.
Angst macht es beiden.
Zwischendurch kommt ein glockenhelles Lachen ins Spiel, als verwandelte sich die Situation in ein Telefongespräch mit einer ihrer Freundinnen. Mühelos wechselt sie ins Parlando, als wäre nichts gewesen.
Ich komme in ihr Zimmer und sie wechselt wieder den Ton. Schaff diese Alte raus, befiehlt sie mir. Im Zwielicht der Nachttischlampe erkennt sie ihr Spiegelbild nicht. Nein, es ist subtiler. Sie nimmt etwas wahr, das sie beunruhigt und ihr Angst macht, weil es nicht mit ihrem Selbstbild übereinstimmt. Ich kann sie dazu bewegen, sich wieder schlafen zu legen.
Gestern ein kurzes Treffen mit J. in D. - ich schildere ihm meine Situation, versuche, sie als Training zu verstehen. Jetzt geht es nicht um höher, schneller, weiter. Jetzt geht die Reise nach innen, in die Tiefe, auf die Suche nach einer Balance, die ich im Schreiben finde.
Das Bild der Balance ist egoistisch. In der Mutter-Sohn-Dyade wächst in mir, was ihr verloren geht.
Angst macht es beiden.
Donnerstag, 7. Juli 2011
Über das Verrücken der festen Dinge
Du hast so gern getanzt.
Du bist auch gern schön gewesen. Dein Leben wäre so wunderbar verlaufen, hast du manchmal gesagt. Der Mann, den du mit 13 Jahren anfingst zu lieben, erzählte irgendwann, er hätte dich nie richtig erzogen. Immer hast du Angst gehabt, dass deine Mädchen nicht wiederkommen, wenn sie fort gingen. Du konntest keine Martinshörner ertragen, weil du dann sicher warst, eine von uns wäre tot. Wenn du früher traurig wurdest, bist du Rolltreppe gefahren, um dich abzulenken. Zeitlebens hattest du zuwenig Geld, weil man nicht auszugeben wagt, was einem zugeteilt wird. Deshalb willst du heute noch, dass andere das, was dir gehört, verwalten. Bevor Vater starb, wußtest du nicht, dass es mehr als genug sein würde. Deine Handschuhe, die du zum Presseball 1966 in Bonn trugst, gingen dir bis zum Oberarm und dufteten nach Elocar Herb. Etwas anderes konntest du dir nicht leisten. Als ich zehn Jahre alt war, schenkte ich dir dein erstes Minikleid von Woolworth. Es hatte die Farbe von reifen Orangen, wie die erste Apfelsine, die dir 1945, als du selbst erst zehn warst, ein schwarzer GI gab, dessen Truppe euer Wohnzimmer besetzt hatte. Ich weiß, wie oft du versucht hast, mit deinen Töchtern zu basteln und wie selten dir das gelang. Du wurdest wütend, wenn etwas schief ging. Dinge kaputt gehen sehen konntest du nie. Einmal haben wir zusammen ein Lebkuchenhäuschen zustande gebracht und es gab eine Zeit, in der du unsere Wohnung in ein Gewächshaus für riesige, knallbunte Kreppblumen verwandeltest. Du warst das erste, was wirklich mir allein gehörte, hast du einmal zu mir gesagt. Mit dir bin ich an allen Orten gewesen, die du fürchtetest. Frauen, mit denen du hättest teilen können, betrachtetest du mißtrauisch. Keine war schöner als du. Wegen der Stricknadel einer Engelmacherin wärest du fast gestorben, fünf Jahre bevor Romy Schneider und Senta Berger auf dem Sterntitel bekannten, auch sie hätten abgetrieben. Du hörtest auf, für die Zeitung deine Alltagsgeschichten zu schreiben, als Vater nicht mehr aushielt, dass du mehr Leserbriefe bekamst als er. Deine Mutter verstand nie, wieso du nicht stricken lernen wolltest. Eure erste Einrichtung hast du für euch verdient. Du schicktest meinem Vater dein Haushaltsbuch an den Studienort. Er schrieb zurück, du dürfest dir das nächste Paar Strümpfe von deinem Geld erst in drei Monaten leisten. Während meiner Geburt tipptest du mit der Schreibmaschine auf dem Bauch im Kreißsaal noch Berichte für den Chefarzt. Du hättst nie offen Nein gesagt. Du hast so gern gelacht und ebenso schnell geschlagen, wenn dir die Nerven dünn wurden. Später wusstest du nie, wieso du weinen musstest. Deine Mutter hat dir das Gesicht geschwärzt, als die Russen kamen. Seither hattest du Angst vor der Dunkelheit. Neulich sagtest du, dass du nicht verstehst, wieso all das, was einen Menschen ausmacht, irgendwann plötzlich mit ihm verschwindet. Für dich ist nichts verloren. Manchmal sprichst du nachts im Bett mit meinem toten Vater, mit dem vor Jahren deine Welt untergegangen ist. Bis dahin kannte ich dich nicht ohne Lippenstift. Du hast mir beigebracht, wie man sich schminkt, sich anständig benimmt und jemanden lieb hat. Deinetwegen weiß ich alles und mehr über das Verrücken der festen Dinge.
Du bist auch gern schön gewesen. Dein Leben wäre so wunderbar verlaufen, hast du manchmal gesagt. Der Mann, den du mit 13 Jahren anfingst zu lieben, erzählte irgendwann, er hätte dich nie richtig erzogen. Immer hast du Angst gehabt, dass deine Mädchen nicht wiederkommen, wenn sie fort gingen. Du konntest keine Martinshörner ertragen, weil du dann sicher warst, eine von uns wäre tot. Wenn du früher traurig wurdest, bist du Rolltreppe gefahren, um dich abzulenken. Zeitlebens hattest du zuwenig Geld, weil man nicht auszugeben wagt, was einem zugeteilt wird. Deshalb willst du heute noch, dass andere das, was dir gehört, verwalten. Bevor Vater starb, wußtest du nicht, dass es mehr als genug sein würde. Deine Handschuhe, die du zum Presseball 1966 in Bonn trugst, gingen dir bis zum Oberarm und dufteten nach Elocar Herb. Etwas anderes konntest du dir nicht leisten. Als ich zehn Jahre alt war, schenkte ich dir dein erstes Minikleid von Woolworth. Es hatte die Farbe von reifen Orangen, wie die erste Apfelsine, die dir 1945, als du selbst erst zehn warst, ein schwarzer GI gab, dessen Truppe euer Wohnzimmer besetzt hatte. Ich weiß, wie oft du versucht hast, mit deinen Töchtern zu basteln und wie selten dir das gelang. Du wurdest wütend, wenn etwas schief ging. Dinge kaputt gehen sehen konntest du nie. Einmal haben wir zusammen ein Lebkuchenhäuschen zustande gebracht und es gab eine Zeit, in der du unsere Wohnung in ein Gewächshaus für riesige, knallbunte Kreppblumen verwandeltest. Du warst das erste, was wirklich mir allein gehörte, hast du einmal zu mir gesagt. Mit dir bin ich an allen Orten gewesen, die du fürchtetest. Frauen, mit denen du hättest teilen können, betrachtetest du mißtrauisch. Keine war schöner als du. Wegen der Stricknadel einer Engelmacherin wärest du fast gestorben, fünf Jahre bevor Romy Schneider und Senta Berger auf dem Sterntitel bekannten, auch sie hätten abgetrieben. Du hörtest auf, für die Zeitung deine Alltagsgeschichten zu schreiben, als Vater nicht mehr aushielt, dass du mehr Leserbriefe bekamst als er. Deine Mutter verstand nie, wieso du nicht stricken lernen wolltest. Eure erste Einrichtung hast du für euch verdient. Du schicktest meinem Vater dein Haushaltsbuch an den Studienort. Er schrieb zurück, du dürfest dir das nächste Paar Strümpfe von deinem Geld erst in drei Monaten leisten. Während meiner Geburt tipptest du mit der Schreibmaschine auf dem Bauch im Kreißsaal noch Berichte für den Chefarzt. Du hättst nie offen Nein gesagt. Du hast so gern gelacht und ebenso schnell geschlagen, wenn dir die Nerven dünn wurden. Später wusstest du nie, wieso du weinen musstest. Deine Mutter hat dir das Gesicht geschwärzt, als die Russen kamen. Seither hattest du Angst vor der Dunkelheit. Neulich sagtest du, dass du nicht verstehst, wieso all das, was einen Menschen ausmacht, irgendwann plötzlich mit ihm verschwindet. Für dich ist nichts verloren. Manchmal sprichst du nachts im Bett mit meinem toten Vater, mit dem vor Jahren deine Welt untergegangen ist. Bis dahin kannte ich dich nicht ohne Lippenstift. Du hast mir beigebracht, wie man sich schminkt, sich anständig benimmt und jemanden lieb hat. Deinetwegen weiß ich alles und mehr über das Verrücken der festen Dinge.
Mittwoch, 6. Juli 2011
Die Alte mit dem Fernrohr
Ihr Sessel ist Hochsitz, Ausguck - von da hat sie alles im Blick. Besonders gegenüber - die Alte mit dem Fernrohr. Elle se trouve sous surveillance. Die Alte mit dem Fernrohr beobachtet uns, meine Mutter und mich. Sie sei etwa genauso alt wie sie und wolle wissen, was bei uns passiert.
Gut, dass sie vorher misstrauisch um sich geschaut hat und die Katzen für vermisst erklärt. Sind wohl abgehauen, heute Nacht, sagt sie leise. Du brauchst kein Katzenfutter zu kaufen.
Als sie nach den Katzen sucht, verengt sich das rechte Auge. Kimme, Korn, Schuss. Sie wechselt das Objektiv. Die Alte mit dem Fernrohr ist ihr Spiegelbild, ist ein Versuch zu verstehen, was passiert. Der einzige Umweg, um die Wahrheit allmählich ans Licht gelangen zu lassen.
Zwischendurch liest sie wieder Thomas Mann. Zuerst die Buddenbrooks. Der Empfangsbär hat es ihr angetan. So einen hätte sie gern, riesig, furchterweckend, dekorativ, eine Figur zum Spielen, eine Figur, um das eigene Gedächtnis auf die Probe zu stellen. Sie traut sich nicht über den Weg. Da kommt der Bär gerade recht.
Jetzt brütet sie über dem Zauberberg. Ganz bei sich und im Hier und Jetzt ist sie bei den Nachrichten. Empört sich über die Pastorentochter. Wie kann die nur Panzer an die Saudis liefern!
Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes erhielt sie auf dem Petersberg bei Bonn von Johannes Rau den Verdienstorden Nordrhein-Westfalens. Ordensbrüder an diesem Abend waren Ben Wisch und Ralph Giordano. Sie erhielt den Orden, weil sie während des Maidanek-Prozesses Zeuginnen der Anklage betreut hatte. Am Vorabend ihrer Aussage saßen sie bei meinen Eltern im Wohnzimmer, manche begleitet von ihren Kindern, und versuchten, manchmal zum ersten Mal, im Beisein ihrer Kinder davon zu erzählen.
Diese Erfahrung prägt, schuf und festigte Freundschaften, ist eine Impfung gegen das Irresein (nicht gegen das Werden). Im Protest, in der Empörung, ist sie bei sich, schmerzfrei, glasklar.
Da kann die Alte mit dem Fernrohr sehen, was sie will.
Gut, dass sie vorher misstrauisch um sich geschaut hat und die Katzen für vermisst erklärt. Sind wohl abgehauen, heute Nacht, sagt sie leise. Du brauchst kein Katzenfutter zu kaufen.
Als sie nach den Katzen sucht, verengt sich das rechte Auge. Kimme, Korn, Schuss. Sie wechselt das Objektiv. Die Alte mit dem Fernrohr ist ihr Spiegelbild, ist ein Versuch zu verstehen, was passiert. Der einzige Umweg, um die Wahrheit allmählich ans Licht gelangen zu lassen.
Zwischendurch liest sie wieder Thomas Mann. Zuerst die Buddenbrooks. Der Empfangsbär hat es ihr angetan. So einen hätte sie gern, riesig, furchterweckend, dekorativ, eine Figur zum Spielen, eine Figur, um das eigene Gedächtnis auf die Probe zu stellen. Sie traut sich nicht über den Weg. Da kommt der Bär gerade recht.
Jetzt brütet sie über dem Zauberberg. Ganz bei sich und im Hier und Jetzt ist sie bei den Nachrichten. Empört sich über die Pastorentochter. Wie kann die nur Panzer an die Saudis liefern!
Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes erhielt sie auf dem Petersberg bei Bonn von Johannes Rau den Verdienstorden Nordrhein-Westfalens. Ordensbrüder an diesem Abend waren Ben Wisch und Ralph Giordano. Sie erhielt den Orden, weil sie während des Maidanek-Prozesses Zeuginnen der Anklage betreut hatte. Am Vorabend ihrer Aussage saßen sie bei meinen Eltern im Wohnzimmer, manche begleitet von ihren Kindern, und versuchten, manchmal zum ersten Mal, im Beisein ihrer Kinder davon zu erzählen.
Diese Erfahrung prägt, schuf und festigte Freundschaften, ist eine Impfung gegen das Irresein (nicht gegen das Werden). Im Protest, in der Empörung, ist sie bei sich, schmerzfrei, glasklar.
Da kann die Alte mit dem Fernrohr sehen, was sie will.
Montag, 4. Juli 2011
Der Tag, an dem meine Mutter fast wie Erich Mielke spricht ...
... war heute: "Ich liebe euch doch alle."
Mielke sprach anders in der Volkskammer. Er sagte: "Ich liebe - ich liebe doch alle - alle Menschen - Na ich liebe doch - ich setzte mich doch dafür ein."
Rhetorisch ein Einwand. Emotional ein Schlag in den Solarplexus. Der geschundene schmerzgebeugte Körper ist ihr Dasein. Ihr Geist geht mäandern. Gespräche werden ungefähr.
"Das kann man wohl sagen", ein syntaktischer Joker, neben den Katzen. Eben bat sie mich, beim nächsten Einkauf ein paar Dosen Katzenfutter zu kaufen. "Sie brauchen doch auch was zu essen."
"Das kann man wohl sagen", ahme ich sie nach und verstehe die Sehnsucht, die in dem Satz steckt.
Mielke sprach anders in der Volkskammer. Er sagte: "Ich liebe - ich liebe doch alle - alle Menschen - Na ich liebe doch - ich setzte mich doch dafür ein."
Rhetorisch ein Einwand. Emotional ein Schlag in den Solarplexus. Der geschundene schmerzgebeugte Körper ist ihr Dasein. Ihr Geist geht mäandern. Gespräche werden ungefähr.
"Das kann man wohl sagen", ein syntaktischer Joker, neben den Katzen. Eben bat sie mich, beim nächsten Einkauf ein paar Dosen Katzenfutter zu kaufen. "Sie brauchen doch auch was zu essen."
"Das kann man wohl sagen", ahme ich sie nach und verstehe die Sehnsucht, die in dem Satz steckt.
Freitag, 1. Juli 2011
Die da oben
Ihre Mutter hörte das Steigerlied und Mignon. Aus der Heizung. Manchmal summte sie mit. Sehnsucht blieb für sie bis zuletzt auf Sendung.
Meine Mutter hört auch Stimmen. Sie kommen nicht aus der Heizung. Sie kommen von oben. Die da oben singen "Das Ännchen von Tharau".
"Die da oben" wissen davon nichts. Auf der Fußmatte vor ihrer Tür steht "welcome @". Von da oben hört meine Mutter das Ännchen. Und Nazilieder. Die Fahne hoch. Die Reihen fest geschlossen.
Aus Wut darüber klettert sie aus dem Bett. Die Wut macht sie schmerzfrei. Plötzlich kann sie aufrecht stehen. Reckt das zornige spraygefestigte Medusenhaupt. Ich soll Schluss machen mit dem Gesang. Die sollen endlich aufhören!
Beim Ännchen singt sie leise mit. Das Lied für Anna Neander wird zum Lied ihres eigenen Lebens:
Das Ännchen, Simon Dach, Horst Wessel und Freddy Mercury leben mit uns unter einem Dach.
Nothing really matters? Das nicht. Aber fast.
Meine Mutter hört auch Stimmen. Sie kommen nicht aus der Heizung. Sie kommen von oben. Die da oben singen "Das Ännchen von Tharau".
"Die da oben" wissen davon nichts. Auf der Fußmatte vor ihrer Tür steht "welcome @". Von da oben hört meine Mutter das Ännchen. Und Nazilieder. Die Fahne hoch. Die Reihen fest geschlossen.
Aus Wut darüber klettert sie aus dem Bett. Die Wut macht sie schmerzfrei. Plötzlich kann sie aufrecht stehen. Reckt das zornige spraygefestigte Medusenhaupt. Ich soll Schluss machen mit dem Gesang. Die sollen endlich aufhören!
Beim Ännchen singt sie leise mit. Das Lied für Anna Neander wird zum Lied ihres eigenen Lebens:
- Dies ist dem Ännchen die süßeste Ruh',
- Ein Leib' und Seele wird aus Ich und Du.
- Dies macht das Leben zum himmlischen Reich,
- Durch Zanken wird es der Hölle gleich.
Das Ännchen, Simon Dach, Horst Wessel und Freddy Mercury leben mit uns unter einem Dach.
Nothing really matters? Das nicht. Aber fast.
Herzschlag ins Gesicht
Ich habe mein Leben zusammengefaltet auf Herzgröße.
Geblieben ist ein kleiner, schlagender Punkt. Merkwürdig, wieviel Wut überlebt. Meine Dämonen wohnen in Mutters Wohnzimmer, wo ihr Sofa zum Thron geworden ist. Liegen und warten, dass sie zum Essen, Fernsehen, Ausgeführtwerden kommen darf. Wir wohnen in einem Universum von Modalverben. Dürfen, können, sollen, müssen. Ihr Königreich der Krankheit ist begrenzt. Verzeihbar, dieses letzte Imperium, was bleibt.
Man hat sie psychisch und physisch durchleuchtet, Endlichkeit diagnostiziert, keine Hoffnung auf Besserung gemacht. Das war, bevor wir kamen. Seitdem verschieben sich Kontinente überall. Sie ist nicht mehr die Feder, von jedem Luftzug ins Nichts geweht. Nähe stärkt für Aktionen. Ihr Widerstand (vor allem gegen Waschen, Essen, Hinausgehen) schwindet. Der Protest gegen Fremdbestimmung hingegen wächst. Manchmal ist Krieg. Und weil wieder Krieg sein darf, entsteht Frieden, wo vorher große Fragezeichen tanzten. Wir kämpfen und lieben. Wir zerren und drücken uns. Es ist schwer, ein guter Mensch zu sein.
"Da mussten wir alle mal durch!" konstatiert meine Tante, eine Bäuerin, am Telefon. Ich habe den Verdacht, dass das so nicht mehr stimmt. Genau zwei Menschen, die ich kenne, pflegen ihre Mütter. Mein Berlin ist eine Erinnerung an 23 Jahre Freiheit und praktischere Lösungen. Das Ruhrgebiet die Rückkehr zu mir. Man lässt Menschen nicht allein. Aber ich habe ein Stiefproblem, seit ich die Rabenmutter meiner Mutter bin. Die Dinge, die ich ihr antue, werden zu Zeugen der Anklage gegen mich. Ich zwinge zur Teilnahme am Dasein. Zwang hat vieles verbessert. Meine alten, freiheitlichen Prinzipien sind verloren. Die Welt verkehrt sich, seit ich an ihrer Seite um sie Palisaden der Kontrolle errichte.Manchmal schaut Mutter mich eigenartig an, wie eine böse Botin von etwas, was nicht endet.
Manchmal wecken mich auch nachts die sachten Schatten ungestellter Fragen:
Was wäre gewesen, wenn ich sie in Pflege gegeben hätte? Dann wäre ich tot, sagt sie.
Man nennt es Liebe. Man schüttelt den Kopf. Man tut, was zu tun ist. So gut man eben kann.
Ich habe mein Leben zusammengefaltet auf Herzgröße. Nun schlägt es Mutter ins Gesicht.
Geblieben ist ein kleiner, schlagender Punkt. Merkwürdig, wieviel Wut überlebt. Meine Dämonen wohnen in Mutters Wohnzimmer, wo ihr Sofa zum Thron geworden ist. Liegen und warten, dass sie zum Essen, Fernsehen, Ausgeführtwerden kommen darf. Wir wohnen in einem Universum von Modalverben. Dürfen, können, sollen, müssen. Ihr Königreich der Krankheit ist begrenzt. Verzeihbar, dieses letzte Imperium, was bleibt.
Man hat sie psychisch und physisch durchleuchtet, Endlichkeit diagnostiziert, keine Hoffnung auf Besserung gemacht. Das war, bevor wir kamen. Seitdem verschieben sich Kontinente überall. Sie ist nicht mehr die Feder, von jedem Luftzug ins Nichts geweht. Nähe stärkt für Aktionen. Ihr Widerstand (vor allem gegen Waschen, Essen, Hinausgehen) schwindet. Der Protest gegen Fremdbestimmung hingegen wächst. Manchmal ist Krieg. Und weil wieder Krieg sein darf, entsteht Frieden, wo vorher große Fragezeichen tanzten. Wir kämpfen und lieben. Wir zerren und drücken uns. Es ist schwer, ein guter Mensch zu sein.
"Da mussten wir alle mal durch!" konstatiert meine Tante, eine Bäuerin, am Telefon. Ich habe den Verdacht, dass das so nicht mehr stimmt. Genau zwei Menschen, die ich kenne, pflegen ihre Mütter. Mein Berlin ist eine Erinnerung an 23 Jahre Freiheit und praktischere Lösungen. Das Ruhrgebiet die Rückkehr zu mir. Man lässt Menschen nicht allein. Aber ich habe ein Stiefproblem, seit ich die Rabenmutter meiner Mutter bin. Die Dinge, die ich ihr antue, werden zu Zeugen der Anklage gegen mich. Ich zwinge zur Teilnahme am Dasein. Zwang hat vieles verbessert. Meine alten, freiheitlichen Prinzipien sind verloren. Die Welt verkehrt sich, seit ich an ihrer Seite um sie Palisaden der Kontrolle errichte.Manchmal schaut Mutter mich eigenartig an, wie eine böse Botin von etwas, was nicht endet.
Manchmal wecken mich auch nachts die sachten Schatten ungestellter Fragen:
Was wäre gewesen, wenn ich sie in Pflege gegeben hätte? Dann wäre ich tot, sagt sie.
Man nennt es Liebe. Man schüttelt den Kopf. Man tut, was zu tun ist. So gut man eben kann.
Ich habe mein Leben zusammengefaltet auf Herzgröße. Nun schlägt es Mutter ins Gesicht.
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